Überwachungsprogramm Tempora: Es geht um unsere Freiheit


Das britisch-amerikanische Überwachungspogramm Tempora markiert einen historischen Wendepunkt. Geheimdienste haben sich, unbemerkt von der Öffentlichkeit, das Potential zur orwellschen Totalüberwachung verschafft. Regierungen haben ihren Wählern gezielt verheimlicht, wie sie beobachtet werden.

Der Begriff "Datenautobahn" für das Internet griff schon immer zu kurz. In Wahrheit ist das Netz ein globaler Kommunikationsraum, in dem private und privateste Informationen über einen Großteil der Bevölkerung aller entwickelten Länder zu finden sind. Das Erpressungspotential jener, die auf ein allsehendes Internet-Auge zugreifen können, ist schier grenzenlos.

Genau dieses allsehnde Auge haben der britische Geheimdienst GCHQ und die amerikanische NSA unter dem Namen Temporaoffenbar entwickelt. Die passende Realwelt-Metapher für dieses Ansinnen: In jedem Zimmer jedes Hauses und jeder Wohnung werden Kameras und Mikrofone installiert, jeder Brief wird geöffnet und kopiert, jedes Telefon angezapft. Alles, was geschieht, wird aufgezeichnet und kann bei Bedarf betrachtet werden.
Das klingt grotesk, es ist aber erschreckend nahe an Realität, die der "Guardian" am Freitag enthüllte: Das GCHQ und die NSA kooperieren bei der Überwachung des Internetverkehrs, indem sie an den Glasfaser-Seekabeln direkt den Datenstrom abzweigen, kopieren und zwischenspeichern, um ihn bei Bedarf nach Informationen zu durchforsten.
Wir schauen doch nur hin, wenn wir es für geboten halten
Die Nutznießer dieses infamen Programms machten sich nun nicht einmal mehr die Mühe, zu dementieren, was sie da treiben. Der britische Geheimdienst ließ wissen, man kommentiere solche Dinge nicht - aber alles diene der Bekämpfung des Terrorismus und unterliege strengen gesetzlichen Auflagen. Seit der Enthüllung des Prism-Programmsargumentieren die Vertreter der NSA genauso: Was wir machen, dient der guten Sache, wir werden kontrolliert, und wir schauen doch nur hin, wenn wir es für geboten halten. Nicht immer. All das ist Augenwischerei.
Würde eine demokratische Öffentlichkeit der Totalüberwachung ihres privaten Wohnraums per Kamera zustimmen, weil man dabei vielleicht auch mal einen Terroristen beobachten könnte? Würden wir uns damit zufrieden geben, dass doch nur hingesehen wird, wenn ein namenloser Geheimdienst-Analyst es für nötig hält? Selbstverständlich nicht. Eine Regierung, die ein solches Programm vorschlüge, würde aus dem Amt gejagt, und zwar zu Recht.
Es mutet daher seltsam an, dass die Reaktionen in der angelsächsischen Welt so verhalten ausfielen. Sicher, "Guardian" und auch die "Washington Post" berichten ausführlich über die Programme. Doch es sind vor allemeinige deutsche Politiker, die sich empören - und das aus gutem Grund.
Denn die Tatsache, dass Briten und Amerikaner - wer noch mitgemacht hat, wird sich noch zeigen müssen - sich diese unerhörte Macht verschafft haben, und zwar ohne die eigene Bevölkerung darüber jemals zu informierten, ist ein Skandal von historischem Ausmaß. Für die Eingeweihten müssen alle Diskussionen um Vorratsdatenspeicherung, Internet-Datenschutz, Facebook und Google regelrecht amüsant gewesen sein. Sie wussten ja: Wir wissen ohnehin längst alles.
"Warum fangen wir nicht immer alle Signale ab?"
Das genau dies das Ziel war, zeigt ein Zitat des NSA-Chefs Keith Alexander aus den dem "Guardian" vorliegenden Dokumenten: "Warum können wir nicht immer alle Signale abfangen?", fragt der General da, "das klingt doch nach einem guten Sommerprojekt für Menwith" - gemeint ist eine GCHQ-Einrichtung in Menwith Hill in Nordengland.

Ein anderes Zitat zeigt, dass die Geheimdienstleute auch nach den ersten Enthüllungen konsequent logen. Nach einer Unterredung mit Behördenvertretern aus den USA und Europa erklärte EU-Kommissarin Viviane Reding, man habe ihr versichert, Daten über Europäer würden "nicht en gros" erfasst, sondern nur gezielt, in Ausnahmefällen. Das ist offensichtlich nicht wahr - nur dass das Sammeln en gros vom GCHQ, nicht von der NSA erledigt wird.
Die Enthüllungen des "Guardian", die wir dem hochriskanten Einsatz desehemaligen NSA-Vertragsarbeiters Edward Snowden verdanken, markieren einen Wendepunkt.
In den nächsten Wochen und Monaten wird sich entscheiden, ob die demokratischen Öffentlichkeiten der Welt stark genug sind, sich dem schrankenlosen, totalitären Anspruch westlicher Geheimdienste entgegenzustellen - oder eben nicht.
Die Regierungen der betreffenden Staaten waren dazu offenbar nicht in der Lage. In vollem Bewusstsein, dass sie diese Art von Überwachung demokratisch nicht würden rechtfertigen können, haben sie Ihrem Wahlvolk systematisch verheimlicht, was hinter seinem Rücken geschieht. Es ist jetzt an diesem Wahlvolk, sich zu wehren - und an uns, deren Daten als Beifang im Tempora-Netz landen, unsere eigenen Volksvertreter zur Verteidigung unserer Freiheit anzuhalten.


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