Prism und Tempora: Das Gefühl der Überwachung

Automatisierte Überwachung: Ich habe etwas zu verbergenVon von Judith Horchert 





Mit Prism und Tempora sind gigantische Überwachungsprogramme öffentlich geworden. Sie haben nichts zu verbergen? Schön für Sie. Ich schon: mein digitales Leben. Denn das kann ich selbst kaum rekonstruieren. Ein Streifzug durch meine privaten Postfächer und Accounts.


Ich gebe es zu: Ich habe mich schon über Bombenanleitungen im Internet ausgetauscht. Mindestens ein Geheimdienst dürfte das auch wissen. Zumindest hieß es doch, der BND habe im Jahr 2010 mehr als 37 Millionen E-Mails und Datenverbindungen überprüft, weil darin bestimmte Schlagwörter wie "Bombe" vorkamen. Ich hab es mal gemacht wie der BND und in meinen Mails nach "Bombe" gesucht. 105 Treffer.
Im besagten Jahr war ich Journalistenschülerin, und als Schulprojekt haben wir ein Magazin über das Internet gemacht. In einem Text ging es um die Frage, wie leicht es ist, mit Hilfe des Internets eine Bombe zu bauen. Die Autoren haben sich juristisch abgesichert, aber in unseren privaten E-Mails - die meisten hatten Accounts bei US-Anbietern - haben wir uns oft über die Recherche ausgetauscht, gesponnen und geblödelt.
Wer so ein Zeug schreibt, macht sich vielleicht verdächtig. Bei den meisten "Bombe"-Treffern in meiner Mailbox aber geht es um nichts Fragwürdiges, sondern ums Weltgeschehen. Da fallen nämlich oft Bomben - mit denen ich nichts zu tun habe. Genau genommen hatte ich noch nie etwas mit einer Bombe zu tun, ich habe nicht einmal an besagtem Text mitgearbeitet.
Interessiert ein digitales Lieschen Müller die Geheimdienste?
Gut: Niemand interessiert mein Privatgeschwätz, nehme ich an. Selbst wenn die E-Mail zum Beispiel für drei Tage in England zwischengespeichert wurde, kann es doch gar keine Kapazitäten geben, um solchen Firlefanz auszuwerten.
Ich weiß aber überhaupt nicht, wie Geheimdienste arbeiten, genau wie die meisten von Ihnen. Nur spätestens nach dem Überwachungsskandal um das amerikanische Prism- und das britische Tempora-Programm muss ich erst mal mit allem rechnen. Und die meisten von Ihnen auch. Ich weiß, dass jemand alles über mich wissen könnte. Ich weiß nicht, ob das der Fall ist oder nicht. Um unbesorgt bleiben zu können, müsste ich Hunderttausenden Geheimdienstmitarbeitern blind vertrauen.
Im Privatleben bin ich das Lieschen Müller des Internets: Ich habe einen Facebook- und einen Twitter-Account, bin Kundin oder Nutzerin von Amazon, Apple, Google, Yahoo und Microsoft. Ich habe Freunde in den USA und vielen anderen Ländern, mit denen ich telefoniere, skype, maile, chatte. Und die meisten Mails, die ich privat verschicke oder empfange, sind unverschlüsselt.
Letzteres liegt hauptsächlich daran, dass die meisten Menschen, mit denen ich maile, mit verschlüsselten Mails gar nichts anfangen könnten. Natürlich weiß ich, dass theoretisch auch ein Angreifer oder jemand, der bei meinem Freemail-Anbieter arbeitet, meine Mails lesen könnte - viele Dinge würde ich in einer E-Mail deshalb sowieso nie schreiben. Aber der Freemail-Mitarbeiter hat keinen Zugriff zu den Puzzlestücken aus meinem restlichen digitalen Leben. Und keinen Geheimdienst im Rücken.
Es ist unklar, ob und wie ein digitales Lieschen Müller in irgendjemandes "Visier" gerät. Aber auf den Berliner Soziologen Andrej Holm zum Beispiel sind BKA-Fahnder durch eine simple Google-Suche aufmerksam geworden. Dieser Verdacht führte zu einer fast einjährigen Observation - obwohl er unbegründet war. Der Fall ist aus diversen Gründen nicht mit meiner Situation zu vergleichen. Aber er zeigt, dass auch Sicherheitsbehörden folgenschwere Fehler machen.
Diese Nachrichten würde man finden
Ich kommuniziere viel im Netz. Aus den unzähligen Sätzen und Nachrichten habe ich willkürlich ein paar von mir ausgewählt:
"Hey, danke für die guten Kontakte in Istanbul."
Das habe ich einem Kollegen als Facebook-Nachricht geschrieben. Für einen Reisebericht hatte ich damals nach Einheimischen gesucht, die mir Tipps für Touristen geben können.
"Ich maile nicht gern über Facebook."
Solche Nachrichten liegen viele in meinem Postfach. Das hat nichts mit Sicherheitsbedenken zu tun (eine unverschlüsselte E-Mail wäre ja nicht besser), sondern mit Bequemlichkeit: Ich habe meinen privaten Mails gern beieinander und will mich nicht noch jedes Mal zusätzlich bei Facebook einloggen.
Dass mancher den Satz anders versteht, sehe ich zum Beispiel an dieser Antwort eines entfernten Bekannten:
"Immer noch misstrauisch? Berechtigt, sicherlich, zumal ich ja auch weiß, dass Du einige Freunde beim CCC hast. Ich traue Facebook und Co. auch nicht wirklich."
Manche E-Mails kann ich mir selbst nicht mehr erklären
Einem Freund schrieb ich:
"Lass uns demnächst mal Berlin unsicher machen."
Klar, mit dem wollte ich ausgehen. Wäre zwei Wochen später in Berlin eine Bombe hochgegangen, könnte man das vielleicht als Anspielung lesen, erst recht, wenn man es per Google-Übersetzer ins vermeintlich Englische übersetzt: "Let us sometime soon make Berlin unsafe."
Solche Missverständnisse würden sich im Falle eines falschen Verdachts ja rasch aufklären, hofft man - durch den Zusammenhang. Aber der ist oft kaum noch nachzuvollziehen. Erst recht nicht bei einer automatisierten Überwachung. Etwa, weil ich mich mit einer Freundin zum Quatschen treffe und später per E-Mail noch einen Satz ergänze: ohne Begrüßung, ohne Einleitung und ein Jahr später selbst für mich selbst nicht mehr nachvollziehbar. Das zeigt ein Dialog mit meinem amerikanischen Bekannten, der in Dänemark lebt. Davon finde ich bei Facebook nur noch Fetzen:
"Ich vermute, den besten Preis erzielst Du in Dänemark."
schrieb ich irgendwann auf Englisch, er antwortete:
"Es sieht so aus, als könnte es für 4000 Kronen verkauft werden."
Erst nach langem Nachdenken fiel mir ein, dass es damals um ein gebrauchtes Smartphone ging und der Rest der Konversation auf anderem Weg stattfand.
Wer sich überwacht fühlt, ändert sein Verhalten
Sollte man vielleicht bedachter sein? Nichts mehr über Bomben schreiben, keine missverständlichen Witze machen, seine Kommunikation verschlüsseln und grundsätzlich so formulieren, dass es auch für potentielle Mitleser eindeutig ist?
Das kommt überhaupt nicht in Frage! Es kann nicht sein, dass ich als unschuldiger und unverdächtiger Mensch mein Verhalten anpassen muss, um nicht Gefahr zu laufen, dass meine E-Mails gelesen werden. Und es ist ein Unding, dass ich fürchten muss, dass sich ein ausländischer Geheimdienst ein falsches Bild von mir macht. Oder womöglich auf mich aufmerksam wird, weil ich ab jetzt doch viele meiner Mails verschlüssele. Ich will mein Leben nicht geändert bekommen.
Doch wer sich überwacht fühlt, ändert sein Verhalten. Wenn Sie das nicht glauben, stellen Sie sich doch einmal kurz vor, dass Sie in diesem Moment jemand durch Ihre Webcam anblickt und Bilder von Ihnen veröffentlicht - so etwas passiert tatsächlich.
Andrej Holms Lebensgefährtin Anne Roth hat mehrfach beschrieben, wie es sich anfühlt, über einen längeren Zeitraum überwacht zu werden. Wer das liest, bekommt eine Ahnung von dieser Beklemmung. Und eine Vorstellung davon, wie schnell Handlungen und Sätze missverstanden werden, wie rasch das eigene Leben von außen fehlinterpretiert werden kann.

"Irgendwo in der Lüneburger Heide haben sie das Ding hochgehen lassen und sind auf unbestimmte Zeit krank geschrieben."
"In Taschen- und Trekkinggeschäften ist offenbar schon der Begriff RFID völlig unbekannt. Ich geh mal Alufolie kaufen."
"Sie wird von Interpol gesucht; es wird vermutet, dass sie in den asiatischen Untergrund abgetaucht ist."
"Statt sich auf die Revolution vorzubereiten, stehen die Leute vor den Kneipen und gucken Fußball."
"Hallo, Berlin! Hat jemand Platz im Keller/Dachboden übrig?"
"Danke für die Tipps. Werde nicht aufgeben."
"Wir brauchen neues Gas."
"Ich bin nervös."
Würde ich das als Außenstehende lesen, würde ich mich vielleicht fragen, was diese Person treibt und was das überhaupt für eine Person ist. Das bin ich.
Ich kann alles erklären. Will ich aber nicht. So weit kommt es noch
Quelle: Der Spiegel

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